Ein Wort vorweg zu diesem Kapitel: Glauben Sie nicht alles was Sie lesen, und lesen Sie nicht alles was Sie glauben, denn unser Gehirn nimmt selektiv wahr. Was man früher als Latrinengerüchte abgetan hat, heißt heute vornehm Verschwörungstheorie. Wenn man also genau das liest, was man ohnehin vermutet, werden diese Gerüchte zur eigenen Wahrheit. Sortieren Sie sorgfältig die Unterhaltung unserer drei Protagonisten nach solchen Kriterien.
Leider hatte Werner den Artikel über den Todesengel gelesen und brachte die Unterhaltung gleich in diese Richtung.
„In letzter Zeit wird oft über den demografischen Wandel in Deutschland geredet. Bald können die jungen Leute uns nicht mehr ernähren. Da kommen solche Todesfälle der Rentenversicherung doch sehr gelegen. Es ist und bleibt aber Mord.“
Jan war komplett entrüstet: „Nie im Leben würde ich glauben, dass unsere Regierung, oder überhaupt eine Regierung, zu so einem Schritt fähig wäre.“
Da trumpfte Dieter mit einer Erkenntnis auf: „In Argentinien – meine Tochter ist dahin ausgewandert – hat man den Rentnern kostenlos Viagra gegeben. Als Nebenwirkung konnte man damals als älterer Patient Herzinfarkt bekommen und meiner Mutter hat ein Arzt einmal Clopazin oder Clozapin oder so verschrieben. Da stand auf dem Beipackzettel etwas von plötzlichen Todesfällen als Nebenwirkung. Meine Mutter war über 90 und ich war mitgegangen zum Arzt. Die Sprechstundenhilfe fragte damals, wie lange meine Mutter schon Rente bekommt. Das alles kommt mir jetzt schon etwas merkwürdig vor. Heute scheint mir die Frage sehr unanständig. Hätte sie gefragt, seit wann meine Mutter Rentnerin ist, dann hätte ich mir nichts dabei gedacht. Aber so…?“
Jan versuchte sich selbst und die Kollegen zu beruhigen: „Wenn es wirklich so wäre, dann hätte die Regierung viele Möglichkeiten, die Rentner loszuwerden. Sie könnte z. B. Das Essen auf Rädern vergiften mit einem schleichenden Gift. Bei alten Leuten würde die Polizei keine großen Untersuchungen veranstalten. Auch im Altenheim wäre das ein Klacks, Leute um die Ecke zu bringen. Durch vertauschen von Medikamenten – kann ja mal passieren. Aber natürlich auch über die Nahrung. In Russland versterben oft mehrere Menschen an selbst gebranntem Schnaps. Auch da könnte ein Agent Leute zum Kaffee einladen, hinterher einen Schnaps ausgeben und der wäre dann der letzte Drink des so Beschenkten. Das alles funktioniert nicht, man braucht zu viele Mitwisser.“
„Viele Mitwisser braucht man nicht.“ Werner hatte schon eine Idee für die praktische Ausführung: „Ein einziger Agent könnte in einer Großküche Tausende von Menschenleben gefährden. Wenn er unauffällig eine Kelle Toxin in einen großen Kessel mit dem aktuellen Mittagessen oder mit dem Dessert gibt, dann macht er alle nachfolgenden Personen zu Handlangern ohne deren Wissen. Die Abfüller in Portionen, die Verteiler und auch jene, die die Nahrung übergeben. Ganz besonders effektiv wäre auch das Verbreiten von Grippeviren, die vorwiegend alte Leute dahinraffen. Um einen solchen Plan zu realisieren braucht es wenig Leute für viele Tote. Übrigens Plan, wollen wir nicht einmal diskutieren, wie wir die folgenden Wochen eine neue Strategie ausklügeln?“
Jetzt kam Dieter aber in Rage: „Lass uns erst einmal klarstellen, ob unsere Regierung zu solchem Handeln fähig wäre. Ich glaube, die könnte sich das gar nicht erlauben, weil die Leute vom Fernsehen oder von der Zeitung drauf kämen und einen großen Skandal draus machen würden.“
In Jan stieg schon wieder die bekannte Furcht auf. Könnte auch die deutsche Regierung zu solchen Handlungen fähig sein. Was würde das denn für sein eigenes Leben bedeuten? In seine Gedanken hinein gab Werner, der ja stets am Puls der Zeit mit seiner Lektüre von Zeitungen und Nachrichtensendungen gewesen war eine entlarvende Antwort.
„Wir haben einen Bundestagspräsidenten, der einhundert Tausend D-Mark Schmiergeld in der Schublade vergessen hat. Wir hatten einen Bundeskanzler, der die Herkunft von Schmiergeld für seine Partei nicht einmal vor dem Untersuchungsausschuss erläutert hat. Wir hatten einen Innenminister, der nicht ` mit dem Grundgesetz unterm Arm ` herumlaufen wollte. Das sind die dicksten Brocken. Von den kleineren Gefälligkeiten bei Abgeordneten, Ministern uns so weiter will ich gar nicht reden. Die Lobbyisten stellen eine ganze Bestechungsindustrie dar und niemand tut etwas dagegen. Keine Regierung packt eine Rentenreform an.“
Werner holte tief Luft, dann fuhr er fort: „ Geh doch mal in die Schulen und Lehrwerkstätten. Schon dort wird gesiebt. Wenn du noch so klug bist und als Handicap arme Eltern oder gar Migranten hast, dann bist du schon ein Leben lang benachteiligt. Ich habe selbst erlebt: Mein Vater war Gerüstbauer, meine Mutter Putzfrau. In der Schule hatte ich einen Klassenkameraden, dessen Vater Leiter eines Finanzamtes war. Ich weiß nicht, ob der Knabe doof war, aber wenn er es nicht war, dann war er stinkfaul. Meine Zensuren waren erheblich besser als seine. Trotzdem wurde er für weiterführende Schulen vorgeschlagen und mir riet man seitens der Lehrer, ich möge doch eine Lehre auf dem Bau anfangen. Dort sei ein Mangel an Lehrlingen.“
Werner wurde etwas leiser und auf seiner Stirn formierten sich Sorgenfalten, als würde er alles noch einmal erleben. Dann meinte er: „Auch meine Eltern rieten mir, auf den Bau zu gehen. Ein Kollege von meinem Vater war Maurer und verdiente gutes Geld. Dem solle ich nacheifern. Ich machte aber lieber in einem Fernkurs Fachhochschulreife, ein Studium konnte ich mir natürlich nicht leisten. Mit meinen Stärken in Deutsch und in deutscher Literatur konnte ich eine Stelle als Souffleur bei einem Theater bekommen und hab auch kleine Rollen gespielt oder als Statist fungiert. Ich will damit nur sagen, dass man den kleinen Leuten gerne Märchen von der Gerechtigkeit erzählt und viele glauben es.“
Diese Unterhaltung war nichts für Jan. Wenn Werner es selbst erlebt hatte, dann war es um die Gerechtigkeit ja wirklich nicht so gut bestellt in der Bundesrepublik. Dann sagte er wie zu sich selbst: „Aber kampflos geben wir nicht auf!“
Es war eine kleine Weil still in der Wohnung. Jeder grübelte für sich vor sich hin. Jan unterbrach die Stille: „Wir hatten ja über den Supermarkt gesprochen, wo so viel Geld am Tag reinkommt. Könnte man da einen Plan machen, der uns das Geld in die Hände spielt?“
Werner hatte eine andere Idee: „Nee, Leute, mitten in der Stadt, das ist nichts. Dann können wir uns gleich bei der Polizei melden und um Arrest bitten. Wir brauchen ein Objekt außerhalb mit großem Parkplatz…“
Jetzt meldete sich auch Dieter zu Wort: „Also ich weiß so einen Platz außerhalb. Es ist aber kein Supermarkt, sondern ein Baumarkt…“
Werner fiel ihm ins Wort: „Waaas, ein Baumarkt?“ Dieter erschrak: „Habe ich was falsches gesagt?“
„Nein, Mensch, du hast die Lösung für unser Problem. Wo ist dein Baumarkt denn?“
„Da muss man mit der Buslinie 15 fahren. Es ist ungefähr 2 Kilometer hinter unserem Ortsschild und da kommen am Wochenende immer viel Leute hin.“
„Stellt euch mal vor: Ein Baumarkt. Da kauft kaum einer unter hundert Euro ein. Das wäre ein lohnendes Objekt. Wir müssen und das natürlich genau anschauen und einen minutiösen Plan ersinnen. Da darf nichts schiefgehen. Wenn es klappt, sind wir saniert. Glaubt mir das. Auch wenn manche Leute bargeldlos zahlen, es bleibt immer noch eine große Summe im Tresor.“ Werner geriet ins Schwärmen bei dem Gedanken.
Jan musste noch etwas loswerden: „Steht es also fest, dass wir weitermachen mit unserem Gewerbe?“ Darauf hatte Werner ein großartiges Zitat, dass wohl nicht aus der klassischen Literatur war, sondern das Schlagwort einer politischen Gruppe: „Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Jedoch egal wer immer der Emittent dieser Worte gewesen war, der Satz entbehrte nicht einer gewissen Logik. Wie anders sollten die Benachteiligten Hilfe bekommen, wenn sie sich nicht selbst helfen würden.
Mit dem furchterregenden politischen Geschwätz mochte Jan nicht weitermachen. Daher fragte er an Werner gewandt: „Wie wollen wir denn die Gegend auskundschaften, wenn sie so weit von unserem Ort entfernt ist. Da muss man von hier ja mindestens fünf Kilometer gehen, hin und zurück. Und einmal beobachten wird nicht reichen, es müssen wohl mehrere Tage angesetzt werden.“
„Das auf jeden Fall!“, meinte Werner. „Ich könnte mir vorstellen, dass wir ein elektrisches Fahrrad kaufen, gebraucht natürlich. Da nehmen wir das Geld, das wir jetzt schon haben und investieren es sozusagen in das Geschäft. Wahrscheinlich brauchen wir auch einen Helm. Führerschein brauchen wir keinen für so etwas.“
Sowohl Dieter aus auch Jan hatten einen alten Führerschein Klasse 3 und hätten sogar LKW bis 7,5 Tonnen damit fahren können. Werner hatte sein weniges Geld immer in Ausbildung oder Bücher gesteckt und daher keine Fahrerlaubnis bezahlen können. Autofahren konnte er aber auch.
Werner wollte noch etwas wissen: „Müssen wir noch etwas diskutieren? Oder anders herum: Hat noch jemand eine Frage?“
Darauf meldete sich Dieter, artig wie in der Schule gelernt, mit Handzeichen: „Gibt es heute keinen Daumenbreit Wodka?“
Jan holte 3 Tassen und eine angebrochene Flasche aus seiner Pantry. Schließlich gehörte der Wodka allen Dreien zu gleichen Teilen. Dann meinte er wie beiläufig an Werner gewandt: „Zwei Fragen bleiben bisher offen: Wer fährt das Ding und wo stellen wir es unter. Ich vermute, dass im Altersheim kein Platz dafür zu finden ist. Oder es wird kein Platz dafür genehmigt.“
„Darüber habe ich auch schon ein wenig nachgedacht. Wir im Altersheim haben kaum Möglichkeiten, aber du als Mieter Jan, du könntest doch wohl auch einen Kellerraum haben. Ein Fahrrad kann dir schließlich keine Wohnungsgesellschaft verbieten.“
„Das ist richtig. Bisher habe ich nicht einmal ein Schloss vor der Tür und wenn das Ding nicht zu schwer ist, dann kann es notfalls hochkant hineinpassen. Ich meine ja nur, wenn das Rad länger ist, als der Fußboden dort. Bleibt die Frage nach dem Gewicht. Hinunter werde ich es immer bekommen, aber aufwärts…? Da dürfte es nicht zu schwer sein.“
„Das kommt wohl auch auf den Preis drauf an.“ Dieter mischte sich mit ein. Schließlich hat er auch Ahnung von Metallen und deren Gewicht. „Ein modernes E-Bike mit Teilen aus Leichtmetallen wird um einiges teurer sein als ein Gerät mit normalen Stahlrahmen.“
Werner konnte mit einer Antwort auftrumpfen: „Ich kenne einen großen Laden in der Heinrichstraße. Der hat immer eine Auswahl an gebrauchten Rädern. Oft auch Sonderangebote aus Asien. Es ist allerdings eine Strecke zu Fuß. Der Bus hält nur am Stresemann Platz. Von da ist es noch gut einen Kilometer. Da wäre es vielleicht besser, wenn nur Jan mitkommt.“
Eine Sache wollte Dieter noch klären: „Kann ich das Ding auch fahren? Ich meine wegen meiner Behinderung am Knöchel?“
„Das wird kein großes Problem werden. Ich übe mit dir auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt.“ Jan bot sich sofort an.
Irgendwie war jetzt alles besprochen. Man wollte ein wenig Mobilität gewinnen, um den neuen „Job“ genauestens auszukundschaften.
Nachdem der obligatorische Daumenbreit eingeschenkt war gab es nur noch ein Wort zu sagen: “Prost!“
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