Während Jan am nächsten Vormittag lange im Bett blieb, machte Werner gegen 9 Uhr einen Spaziergang zum Aladin Theater. Vielleicht könnte er dort jemanden treffen mit dem er einen kleinen Plausch halten konnte.
„Na, Werner, auch mal wieder im Lande“, begrüßte ihn der Hausmeister am Personaleingang.
„Ja, Fritz, will mal wieder schauen, ob`s etwas Neues gibt. Ist denn sonst jemand anwesend?“
„Vor kurzer Zeit ist die Else gekommen. Die hat `ne neue Kollegin bekommen. Die heißt Claudia. Ein nettes Mädchen, hat aber einen festen Freund.“ Fritz tat so, als habe er mit dieser Nachricht eine ganz wichtige Botschaft überbracht.
Werner lächelte: „Wieso? Hast du etwa schon probiert, ob da was geht?“
Fritz fühlte sich ertappt: „Nee, ich meine ja nur so….“
„Dann vielen Dank für den Hinweis. Ich schau dann mal bei der Else vorbei.“ Damit machte sich Werner auf den Weg in die Garderoben.
Elisabeth Bianca Brammser war Maskenbildnerin, Visagistin. Sie war geschieden und ihr ehemaliger Mann hatte kaum jemals eine Arbeit mit Sozialversicherung gehabt. Daher bekam sie auch nichts von seiner Rente, die ja verschwindend gering war. So war sie auf das knappe Salär vom Theater angewiesen und musste sogar ab und an beim Sozialamt aufstocken. Mit Else, wie sie genannt wurde, hatte sich Werner oft über Gott und die Welt unterhalten. Irgendwie hatten sie einen gemeinsamen Draht gefunden.
Werner kannte die Tür zur Maske und klopfte sicherheitshalber an. Von innen antwortete eine laute Stimme: „Seit wann wird hier angeklopft?“ Frau Brammser dachte wohl, es sei der Hausmeister.
Werner trat ein. Else ordnete am Schminktisch irgendwelche Pinsel, Schminke in Dosen, Tücher und in einem offenen Schränkchen hingen Perücken jeglicher Farbe und Länge. Man konnte Else ihr Alter kaum ansehen. Sie war halt immer noch hübsch, vielleicht machte es auch etwas aus, dass sie so viel Ahnung vom Schminken hatte. Werner wunderte sich immer wieder darüber. Er wusste, dass sie schon ihren Sechzigsten gefeiert hatte, weil er dabei gewesen war. Insgeheim dachte er, wenn man so alt ist wie ich, dann ist halt jede Frau schön. Dann lächelte er in sich hinein und auch nach Außen schienen einige seiner Gesichtsmuskeln sich zu einem heiteren Gesichtsausdruck zu verziehen, denn Else fragte: „Hallo Werner, was verschafft mir denn diese Ehre, und warum grinst du so?“
„Aber Else, darf ich denn in deiner Gegenwart keine gute Laune haben? Na, dass ist ja ein Ding!“
„Ich kenne dich, van Straaten! Du amüsierst dich gerne auf Kosten anderer. Ich gebe einen Groschen für deine Gedanken.“
„Das kannst du billiger haben, ich sage sie dir freiwillig und umsonst: Ich habe dich bewundert, du bist kaum älter geworden.“
Es war Else egal, wie das gemeint war. Sie nahm es als willkommenes Kompliment. Wenn man den Satz seziert, dann heißt es ja, das Else schon ein wenig älter geworden war in den Augen von Werner.
„Äh, ich bin auch noch da!“ Claudia wollte an der Unterhaltung teilhaben und hörte auf, die Perücke zu bearbeiten, die sie vor sich hatte. Else wandte sich an Werner:
„Das ist übrigens Claudia, meine Assistentin.“ Zu Claudia sagte sie bestimmt aber nicht unfreundlich: „Und du bürste das Haarteil weiter. Man kann arbeiten und reden.“
„Du kannst mich ja wenigstens mal vorstellen…“, maulte Claudia. Das machte Else dann auch kurz und knapp: „Claudia das ist der Werner, der hier auch mal gearbeitet hat und manchmal noch aushilft, Werner, das ist Claudia, die eine Lehre bei mir macht und vielleicht immer noch dem Traum einer großen Bühnenkarriere nachhängt, wie wir beide es auch einmal getan haben.“ Sie seufzte nach Beendigung des Satzes.
„Das Leben ist ja auch für uns noch nicht vorbei“, meinte Werner „hast du denn alle Hoffnung aufgegeben? Wie heißt es in Goethes Faust: Wer immer strebend sich bemüht, den wollen wir erlösen…“
„Na, wenn die Hoffnung sich erst bei meinem Ableben erfüllt, dann würde ich diese Erfüllung als zu spät eingetroffen einschätzen. Übrigens, Goethes Faust: Es werden demnächst wieder einige Komparsen gebraucht. Wenn Du mitmachen willst, muss ich dich zu einem jungen Soldaten machen. Die Oper Carmen wird inszeniert. “
Werner freute sich, ließ sich aber nichts anmerken: „Na schaffst du das auch, aus so einem alten Knochen einen feschen Soldaten zu machen?“
„Ich verwandle jede oder jeden so, dass deren eigene Mütter die Leute nicht wiedererkennen. Drauf kannst du einen ausgeben.“
„Na gut. Ich glaube dir. Aber wegen der Statistenrolle sage dem Intendanten oder dessen Assistentin ruhig, dass er oder sie auf jeden Fall auf mich zählen kann.“
Wie wertvoll diese Gespräch mit Else war konnte Werner heute noch nicht ahnen. Er schrieb die Rufnummer seines alten Mobiltelefons auf einen Zettel. „Auf diese Nummer kannst Du mir eine Textnachricht hinterlassen. Das Telefon liegt aber immer im Altersheim am Auflader, weil der Akku kaputt ist. Man kann mich also nur abends persönlich sprechen. In dringenden Fällen musst du mich einfach besuchen.“
Else schmunzelte: „Die Nummer hast du mir schon einmal bei einer Premierenfeier gegeben. Wirst du vergesslich? Sind das Alterserscheinungen? Warst du so besoffen?“
„OK, dann gehabt Euch wohl, edle Damen!“ Stilecht verabschiedete sich Herr van Straaten.
Nachdem er sich von den beiden Damen losgeeist hatte wollte er zum Mittagessen ins Heim zurück. Während er durch die belebte Straße spazierte grübelte er über Alterserscheinungen nach. Eigentlich fühlte er sich für sein Alter noch bestens. Er hatte andere – oft jüngere – Menschen gesehen, denen es bedeutend schlechter ging. Vor allen Dingen haperte es oft an der Gesundheit. Finanziell ging es ja allen im Heim ähnlich. Die Kosten für ihn zahlte wohl die Sozialhilfe, jedenfalls den Teil, den seine Rente offen gelassen hatte. Was niemand sonst wohl vorweisen konnte war die eiserne Reserve in seinem Laptop. Somit waren sie alle in der Grauzone zwischen super arm und arm angesiedelt.
Die sogenannte „mobile Brigade“ aus dem Heim nahm die Mahlzeiten zusammen in einem Gemeinschaftsraum ein. Nur Insassen die mit Behinderungen sich schlecht bewegen konnten bekamen ihr Essen aufs Zimmer. Einige wurden auch in Rollstühlen zum Essen in die sogenannte Cafeteria gebracht. Dieter saß schon am Tisch und löffelte eine Suppe. Werner setzte sich zu ihm.
Was die beiden nicht wussten war der aufregende Vormittag, dem Jan in der Moltke-Straße ausgesetzt war. Kurz nachdem er sich eine Tasse Kaffee und ein Marmeladenbrot einverleibt hatte, klingelte es an seiner Wohnungstür. Nanu, dachte Jan, da sind die Kollegen aber früh unterwegs.
Als er die Tür öffnete, erschrak er bis ins Mark. Vor der Tür standen ein Pärchen Polizeibeamte. Ein Uniformierter wie ein Schrank und eine robuste weiblich Figur beide in schwarzer Montur mit Schirmmütze. Auf den Mützen und den Jacken prangten Hoheitsabzeichen.
„Sind Sie Herr Jan Daballer“, fragte die Frau.
Jan konnte nur nicken. Man sah ihm an, dass ihm alles mögliche durch den Kopf ging.
„Es ist nur eine kleine Auskunft, die Sie uns vielleicht geben könnten. Es geht um Frau Dorothea Bartsch. Dürfen wir einen Augenblick reinkommen?“ Der männliche Polizist sprach sehr freundlich und Jan hatte nicht den Eindruck, als würde er gleich verhaftet. Jan öffnete die Tür und trat zur Seite, um die beiden einzulassen: „Ja, bitte kommen Sie.“
Als alle drei bei Jan in der Stube standen hatte sich Jan wieder im Griff: „Bitte, nehmen Sie Platz.“
„Vielen Dank, Herr Daballer. Es ist wegen des Datenschutzes…“, wollte der Polizist erklären aber Jan antwortete wie in Trance: „Wie könnte ich gegen Datenschutz verstoßen haben? Das kann ich mir nicht erklären.“
Die Polizistin lächelte entspannt: „Nein, wenn wir Leute über Dritte befragen, dann dürfen wir das nicht in der Öffentlichkeit machen, wo andere zuhören könnten. Das ist der Datenschutz, den wir beachten müssen.“
„Ach so! Ja aber eine Frau Bartsch kenne ich nicht, es sei denn…?“ Jan stockte in seiner Erklärung. Er wollte nach dem Vornamen fragen, da fuhr der Beamte schon fort.
„Frau Dorothea Bartsch ist die Wirtin vom Goldenen Schellfisch. Die Dame behauptet, Sie , Herr Daballer seien Zeuge gewesen bei einer Auseinandersetzung mit einem Stadtstreicher.“ Der Mann schaute dabei auf ein Notizbuch, welches er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.
Jan war einigermaßen erleichtert: „ Doro, ja die kenne ich. Den Nachnamen von ihr höre ich aber zu ersten mal. Hoffentlich ist ihr nichts passiert. Als ich noch in Arbeit und Brot war, bin ich öfter mal in ihrer Kneipe vorbeigekommen. Aber jetzt ist das Geld knapper und da wird es seltener.“
Die Polizistin sah sich im Wohnzimmer um und dachte: Ja, es sieht nicht nach großem Reichtum hier aus.
„Wann waren Sie denn zuletzt dort zu Gast?“, wollte der Polizist wissen. Jan überlegte krampfhaft. Ware es jetzt 10 oder 14 Tage her. Dann erklärte er: „Genau kann ich das nicht mehr sagen. Ungefähr zwei Wochen kann es her sein.“
„Gut, das deckt sich mit dem Termin, den der Stadtstreicher angegeben hat. Haben Sie den Mann vorher schon einmal gesehen? Er hat Frau Bartsch wegen Körperverletzung angezeigt. Dies soll im Gastraum der Wirtschaft geschehen sein. Sie hätte einen metallenen Gegenstand dabei benutzt.“ Als der das erklärte schaute er wieder in sein Notizbuch und schrieb neue Notizen hinein. Dann fragte er nach: „Haben sie die Metallstange auch gesehen?“
Jan setzte ein breites Lächeln auf: „Metallstange, ich lach mich kaputt. Es war eine Schöpfkelle. Ich kam gerade vom… äh…vom ..äh…vom Klo, da schrie sie den Mann an, er solle keine Getränke klauen. Er wollte grade mein Bier aus saufen. Ob der Löffel aus Metall war, kann ich nicht sagen. Es kann auch Plastik gewesen sein. Während der Zeit wo ich vom Klo durch den ganzen Saal bis zu dem Platz gegangen bin hat Doro nicht mit dem Löffel geschlagen. Das ist Fakt.“
„Das deckt sich genau mit der Aussage von Frau Bartsch. Sie hat dem Herrn Knoll nur Prügel angedroht, wenn er das Lokal nicht verlässt.“
„Das habe ich auch so gehört. Der Mann verließ aber danach gleich den Raum. Für Doro ist es sicher nicht einfach, sich immer durchsetzen zu müssen..“ Jan wirkte etwas erleichtert, denn die Beamten nickten; sie schienen genug gefragt zu haben.
Die beiden Polizisten standen auf. Jetzt schaute sich auch der Mann ein wenig um, und Jan dachte fieberhaft an die beiden Pistolen auf dem Kleiderschrank. Er vermied es aber, in diese Richtung zu schauen, sondern las interessiert die große weiße Schrift auf deren Rückender beiden Besucher: POLIZEI.
„Vielen Dank Herr Daballer und auf Wiedersehen.“ Jan begleitete die beiden zur Haustür. Wenn einer der Nachbarn grade neugierig gucken würde, könnte er die Polizei ja auch selbst gerufen haben, weil er sie so freundlich zur Haustür begleitete. Dann sagt er: „Auf Wiedersehen!“ , und leise, fast zu sich selbst: „Leben Sie wohl!“
Beim 10. Stremel ist eines sicher:https://blog.topteam-web.de/satire-oder-tatsache/10-stremel-fuer-jeden-zwei-ueberraschungen/ Er bekommt eine runde Ordnungszahl….