Nach dem ersten Schritt der drei Freunde in eine vermeintlich bessere Zukunft gingen alle einzeln nach Haus. Werner und Dieter trafen sich erst am Nachmittag in Jans Wohnung wieder. Während Dieter in der Nähe des Heimes an einer kleinen Bude ein langes Gespräch mit dem Verkäufer führte, trieb sich Werner in der Nähe des Theaters herum. Er hoffte, die eine oder andere Bekannte zu treffen. Es war zwar noch früher Vormittag aber Proben fingen immer kurz nach 9 Uhr an.
Dieter wagte nicht, die Aktentasche mit dem Geld auf sein Zimmer im Altenheim zu bringen. Er befürchtete, das Putzpersonal würde nachschauen und den Plastikbeutel mit Geld finden. Das wollte er nicht riskieren. Den ganzen Tag konnte er aber auch nicht am Kiosk verbringen, obwohl er den Verkäufer gut kannte. Nach einem ausgiebigen Plausch über das Wetter und die schlechten Zeiten ging Dieter ganz langsam in Richtung Moltke-Straße zu Jan. Er wollte sich mindestens eine Stunde Zeit lassen und dabei alle Schaufenster betrachten, auch jene, in denen für ihn nichts interessantes zu sehen war.
Inzwischen war Jan zu Hause angekommen. Das letzte Stück Weges musste er immer breitbeiniger laufen. In ungewohnter Eile zog er sich aus und versuchte, seine Kleidung grob zu reinigen. Dabei musste er das Fenster weit öffnen, um den Geruch nicht in der Wohnung zu verbreiten. In der Dusche ließ er das heiße Wasser eine ganze Weile laufen, um mit dem Dampf die Luft zu reinigen. In dichten Schwaden zog der Wasserdampf über den Lüfter ab und nahm ein guten Teil der anrüchigen Luft mit sich. Dann kam die Wäsche in die Waschmaschine und Jan stellte sich unter das temperierte Duschwasser. Genüsslich wusch er sich alles ab und es fielen ihm Gedanken ein, die die Symbolik dieser Waschung beinhalteten: Wusch er sich hier den ganzen Dreck auch gleich von der Seele? Wie oft hatte er gegen die immer wieder überfallartig drohende Angst gekämpft. Sie ließ sich einfach nicht überbrücken.
Früher auf den Baustellen hatten Kollegen ihn immer bewundert, wie er anscheinend ohne jeden Anschein von Schwindel auf hohen Gerüsten herum geklettert war. Keiner macht ihm die Balance auf Stahlbauträgern in großer Höhe nach. Und nun? Was hatte ihn so umgehauen? War es die täglich Sorge um genügend Geld für Essen, Wohnen, Leben? War es die Langeweile gewesen, die vor dem Treffen mit Dieter und Werner seine Tage bestimmten? Oder hatte ihm die Trennung von seiner ersten Frau mit dieser Angsthysterie infiziert. „Es ist scheißegal woher, ich muss es loswerden,“ sagte er laut zu sich selbst. Niemand konnte ihn hören. Als er sich angezogen hatte, ging er ins Wohnzimmer, machte alle beiden Fenster und auch die Tür zum Flur auf . Es gab zwar etwas Zugluft, aber er wollte ja auch ausgiebig lüften.
Es mag schon halb elf gewesen sein als Dieter mit seiner Aktentasche bei Jan ankam. Er wunderte sich etwas über das „Haus der offenen Tür“ ging aber ohne Bedenken weiter in Jans Wohnung.
„Hallo Jan! Bist du zu Hause?“ Dieter schaute sich genau um.
„Hallo Dieter, hier bin ich. Komm rein und lass und mal schauen, was wir heute erarbeitet haben.“
„Machst Du grade Haus der offenen Fenster und Türen?“
„Gestern hatte ich Fisch gebraten, den Gestank muss ich loswerden“, Jan log wie es ihm in den Sinn kam.
Dieter gab sich mit der Antwort zufrieden, obwohl er so einen Fischgeruch noch nicht erlebt hatte. Dann legte er die Tasche auf den Tisch und meinte: „Dann lass uns mal zählen!“ Er überlegt, ob er gestehen sollte, dass er einen fünf Euro Schein an der Bude ausgegeben hatte, um die Zeit totzuschlagen. Dann ließ er es aber, weil man könnte ihn womöglich verdächtigen, größere Summen unterschlagen zu haben.
„Der Kassierer hat den Plastikbeutel richtig voll gestopft. Ich bin gespannt, wie viel da reingegangen ist. Lass uns damit lieber in die Küche gehen, falls Besuch vom Paketboten oder sonst einer hier reinkommen will.“ Jan hatte natürlich keinen Extraraum als Küche, nur ein mit einer Leichtbauwand abgetrennten Bereich mit einer Pantry. Beide setzten sich neben der Spüle auf Küchenhocker und begannen, die Tasche zu untersuchen.
„Ich schlage vor, dass wir erst einmal alles sortieren: Die Hunderter, die Fünfziger und dann die kleinen Scheine wie zwanzig, zehn und fünf. Dann zählen wir die einzelnen Zettel (Geldscheine) und multiplizieren mit dem Wert und dann zählen wir alles zusammen.“ Jan schlug damit eine rationale Methode vor, wie er meinte. Dieter hatte ein Bedenken:
„ Wollen wir nicht lieber warten, bis der Werner dabei ist?“
„Eigentlich sollten wir uns alle vertrauen. Ich habe ihm ja auch die fünf hundert Euro wieder mitgebracht, die aus dem goldenen Schellfisch gerettet hatte. Außerdem bin ich sehr neugierig.“ Jan dachte dabei, wenn sie jetzt anfingen, sich gegenseitig zu misstrauen, dann könnte das alles nicht sehr lange dauern. Dann wäre es bald zu Ende mit ihrer „Geschäftsbeziehung.“ So machten sich beide daran, die Tüte mit dem schönen Gemüsebild auf der Spüle zu leeren und die Scheine fein säuberlich aufzustapeln. Irgendwie war die Tüte ziemlich voll gewesen, aber wenn die Scheine gestapelt waren, dann sah es erschrecken wenig aus. Als alles ordentlich aufgestapelt dort lag, sagte Dieter mit skeptischer Miene: „So viel sieht mir das gar nicht aus…“
„Na, lass uns erst einmal nachzählen.“ Als Jan den Satz beendet hatte, klingelte es an der Wohnungstür. „Deck schnell die leere Tüte über den Haufen“, meinte Jan, dann ging er die Tür zu öffnen.
„Ach, du bist es Herr van Straaten. Da bin ich aber froh! Wir wollten gerade das Geld zählen.
„Prima“, freute sich Werner, „zur Feier des Tages habe ich für jeden eine Currywurst und für alle eine Flasche echten Korn. Essen wir erst einmal die Wurst und dann gehen wir ans Zählen.“
Dieser Vorschlag stieß auf allgemeine Zustimmung. Beim Essen erzählt Jan natürlich nichts von seinem Missgeschick, wozu auch? Warum sollte er den anderen und sich selbst den Appetit verderben. Das war doch wirklich nicht nötig. Er beschloss, überhaupt nichts davon zu erwähnen. Wie stünde er denn da? Das Angst und damit verbundene Verdauungsstörungen auch eine normale Krankheit sein könnten, davon wollte er nichts wissen.
Nach der Mahlzeit gossen sie sich jeder noch einen „Daumenbreit“ von echtem Korn ein und so satt und zufrieden widmeten sie sich wieder den Scheinen.
„Es sind leider nur elf Zwanziger, also 220 Euro“, meldete Dieter. Alle schauten sich gegenseitig an. Das war nicht die Welt. Das Fehlen von Hundertern und Fünfzigern ließ die Erwartungen zusammenschmelzen.
„Ich habe hier zweihundert und fünf Zehner gezählt. Das sind immerhin Zwei Tausend und fünfzig Euro.“ Werner konnte seine Enttäuschung auch nicht verbergen. Auch wenn Jan noch so einen Berg fünf Euroscheine zählen würde, der Kohl würde heute wohl nicht mehr fett. Dann meldete Jan noch eine Pleite:
„Genau siebzig fünf Euroscheine, also 350 Euro. 2 Tausend, sechshundert und zwanzig, das ist unsere ganze Beute“ . Jan hatte schnell gerechnet.
„Der Lohn der Angst!“ zitierte Werner.
„Na, jedenfalls kannst Du deine Einlage wieder bekommen.“ Jan hatte ein sehr langes Gesicht bekommen. Dann schlug er vor: „Am besten, wir schenken uns noch einen Daumenbreit Korn ein, wenn Werner das gestattet“.
„Ja, KreuzMillionSchockschwereNotzumDonnerwetternochdreimal! Schenk ein, mach Striche!“ Werner schien die Fassung zu verlieren, die Contenance, wie er sagte.
Einige Minuten trat betretenes Schweigen ein. Jeder hing seinen Gedanken nach. Mit dem sorgenlosen Leben war es eben so wenig real, wie mit dem dauerhaften Gefängnis. Plötzlich meldete sich Werner, der meinte, mit seien Literaturkenntnissen die Laune etwas zu glätten, indem er einen Witz erzählte:
„Also stellt euch vor: Nach einem Manöverball gab der Major seinem Burschen die Ausgehuniform zum Reinigen. Dabei sagte er ungefähr so etwas wie, dass die jungen Leutnants ja nichts vertragen könnten und ihm auf die Uniformjacke gekotzt hätten. Der Bursche kam erst nach zwei Tagen mit der gereinigten Uniform zurück: `Warum hat das so lange gedauert?“ fragte der Major. Der Bursche nahm Haltung an und kam mit der Entschuldigung raus: `Melde gehorsamst Herr Major: Man hat ihnen auch in die Hose geschissen`.
Dieter brüllte los vor Lachen, Jan blieb seltsam still:
„Was hast du Jan, kannst du nicht drüber lachen?“
„Nee, lass mal! Guter Witz, aber ich denke grade nach..“
Lest auch den siebenten Stremel. https://blog.topteam-web.de/satire-oder-tatsache/7-stremel-der-verflixte/
Da geht es rund.