11. Stremel: Im Hühnerstall Motorrad…
Nein, es war nicht die Oma und auch kein Motorrad. Es war ein E-Bike welches Jan und Dieter aus der Heinrichstraße abholen wollten. Aber fangen wir am Vormittag an. Da wollte Werner ja ins Theater und mit seinem Laptop einen Lageplan des Baumarktes ausdrucken. Beim Frühstück im Altersheim hatte sich Dieter neben Oma Elke gesetzt. Die war eine über achtzigjährige rüstige ehemalige Schneiderin. Dieter unterhielt sich gerne mit ihr, weil beide über einen ähnlichen Wortschatz verfügten. Dabei muss man die speziell beruflichen Vokabeln natürlich ausnehmen.
„Guten Morgen Dieter. Sag mal, was machst du eigentlich so den ganzen Tag? Du gehst ja oft spazieren trotz deinen Schmerzen im Bein.“
Um Antwort war Dieter nicht verlegen: „Der Doktor hat mir doch geraten, möglichst viel spazieren zu gehen. Dadurch könnten die Schmerzen nachlassen. Besser wäre noch Radfahren hat er gemeint.“
Elke war ganz erstaunt: „Dann müssten die Schmerzen doch bald ganz weg sein, wenn du so oft aus dem Haus bist.“
„Ganz weg werden sie wohl nicht mehr sein. Abends sind sie aber wesentlich weniger als morgens wenn ich aufstehe.“ Plötzlich wechselte Elke ganz abrupt das Thema: „Meine Kinder sind jetzt schon einen ganzen Monat nicht mehr zu Besuch gekommen. Ich hoffe, da ist niemand krank. Was sollen dann bloß deren Kinder, meine Enkelkinder machen. Ich mach mir richtig Sorgen.“
„Haben die denn auch nicht einmal telefoniert oder einen Gruß bestellen lassen durch das Personal?“
„Nee, die haben einmal gesagt, dass sie in Urlaub nach Spaniern wollten, aber das ist doch schon so lange her.“ Elke war den Tränen nahe.
Dieter konnte sie aber beruhigen: „Aber Elke, du hast mir erst letzte Woche erzählt, dass deine Kinder verreisen und die nächsten 14 Tage dich nicht besuchen werden.“
„Vorige Woche erst?“ Elke war ganz erstaunt. In ihrem alten Geist machte sich ein wenig Vergesslichkeit breit. Das merkte sie auch im Alltag im Heim. Wenn sie nicht von einer Pflegekraft abgeholt wurde, musste sie immer öfter nach dem Weg in den Gemeinschaftsraum fragen. Solche Beobachtungen erfüllten Dieter mit großer Sorge. Was wenn ihm oder einem seiner beiden Kumpanen ein ähnliches Schicksal drohte. Dann wäre das gewohnte Leben – so unbequem es auch sein mochte – nach und nach vorbei. Das wäre dann unumkehrbar, endgültig.
„Warum kommen deine Kinder dich nicht besuchen?“ Elke fragte das in Dieters Gedankengang hinein und riss ihn damit in die Gegenwart zurück.
„Mein einziger Sohn ist mit seiner Frau ausgewandert nach Argentinien. Sie kommen nur alle zwei Jahre nach Deutschland. So viel Geld haben sie auch nicht. Sie bezahlen ja auch das Heim hier für mich.“
„Ach du meine Güte, das hört sich ja ganz weit weg an. Nein, wie schrecklich.“ So etwas konnte sich Elke gar nicht vorstellen. „Dann bist du sicher auch sehr einsam, Dieter.“
„Na, ja, ich komme damit klar. Ich treffe auf meinen Spaziergängen auch oft Bekannte von früher.“ Da war Dieter wieder ganz vorsichtig mit seinen Äußerungen. Von Oma Elke würde jeder alles erfahren, was er nur fragte.
„Ich darf ja nicht mehr in die Stadt gehen. Die Heimleitung meint, ich finde nicht mehr zurück. Aber hier im Garten gehe gerne mal spazieren. Kannst ja mal mitkommen, Dieter.“
„Das machen wir mal. Wir warten mal schönes Wetter ab und dann schauen wir uns gemeinsam den Garten an.“ Dieter wusste, dass daraus wohl kam etwas werden würde, aber warum sollte er Elke enttäuschen.
„Wir können ja gleich nach dem Frühstück ein wenig herumspazieren. Es regnet ja nicht, auch wenn nicht grade Sonnenschein ist.“ Elke ließ nicht locker.
„Ja, machen wir“, sagte Dieter und fuhr fort: „Wir treffen uns dann in einer halben Stunde im Hauptflur.“ Damit wusste er, dass er wieder den ganzen Vormittag frei spazieren gehen konnte, weil Elke weder die Uhrzeit, noch den Treffpunkt einhalten würde. Wahrscheinlich hatte sie alles vergessen, sobald sie vom Tisch aufgestanden war.
Nachdem Elke aufgestanden und gegangen war, setzte sich Dieter kurz an den Tisch zu Werner.
„Heute Nachmittag werden wir uns ja kaum sehen.“ So begann Dieter die Unterhaltung in gedämpften Ton.
„Nein“, meinte Werner. „Wir besprechen alles morgen Nachmittag. Vergesst nicht, ein wenig Korn oder Wodka einzukaufen. Es redet sich besser dabei.“ Mit diesem Spott wollte er sich ein wenig über Dieter lustig machen, dessen Liebe zu alkoholischen Getränken zwar nicht exzessiv, aber doch ausgeprägt war. Nach einer kleinen Denkpause für Dieter fügte er hinzu: „Ich mache mich gleich auf den Weg zum Theater. Wir haben das ja gestern besprochen.“
„Na gut, dann bis morgen. Ich guck jetzt mal in den Hauptflur, ob Oma Elke tatsächlich unseren Termin vergessen hat.“ Damit machte er sich auf den Weg.
Werner stand auch auf und holte aus seinem Zimmer den Laptop. Sein kleines Zimmer nannte er immer ironisch Zelle wenn jemand ihn darauf ansprach. Ja sicher war es nicht luxuriös oder riesengroß, es bewahrte aber ein wenig Privatleben.
Werner machte sich danach direkt auf den Weg zum Theater.
„Hallo Werner, kommst du jetzt öfter?“ Fritz, der Pförtner war nicht wenig überrascht.
„Buenos dias, Fritz! Ja, ich bin wieder da mit einer geheimen Mission.“ Werner musste wieder ein wenig mit seinen Sprachkenntnissen angeben.
„Eine geheime Mission? Erzähl mal!“
„Nun ja, dir kann ich es ja erzählen. Du behältst nichts für dich. Das ist bekannt.“ Werner spottete wieder einmal ohne Rücksicht auf Gefühle anderer. Dass der Fritz aber besser informieren konnte als das Tageblatt war im ganzen Theaterbau bekannt. „Also ich möchte mir aus dem Internet eine Straßenkarte auf meinen Laptop laden. Zu Haus in meiner Zelle geht das nicht. Ist die Else eigentlich schon da, oder ist jemand im Büro?“
Fritz schien keineswegs beleidigt. Er wusste, dass viele Künstler auf seine Informationen Wert legten und antwortete auch sofort: „Frau Jürgensen ist im Büro und macht die Abrechnungen für Gagen, Gehälter und Löhne. Else habe ich heute noch nicht gesehen.“
„Ok, vielen Dank Fritz. Ich hoffe, ich kann das eines Tages mal wieder gut machen. Bis dahin: Pour l`amour de Dieu, oder wie die Bayern sagen würden: Vergelt`s Gott!“
„Davon habe ich schon ausreichend, aber trotzdem viel Erfolg bei Frau Jürgensen.“
Damit ging Werner die Treppen ins Nebengebäude hinauf ins Büro. Auf sein Klopfen an der Tür antwortete eine Frauenstimme mit Herein bitte. Nach dem Öffnen der Tür sah Werner die eine Dame vor einem PC die anscheinend Zahlenkolonnen in eine Datenbank eintippte. Sie sah nur kurz auf und fragte dann: „Ah, guten Tag Herr van Straaten. Wir haben von der Intendanz noch keinen Bescheid, wann wir sie wieder einsetzen können. Was kann ich sonst für Sie tun?“ Frau Jürgensen wollte gerne ihre Arbeit weitermachen, das war erkennbar.
Werner musste sein Anliegen am besten in einen kurzen Satz fassen, um die Geduld der Frau nicht zu strapazieren. „Ich würde mir gerne einen Stadtplan aus dem Internet herunterladen. Wenn ich einen Augenblick die Kennung für Ihr Wlan bekommen könnte, lasse ich Sie komplett in Ruhe.“
Wortlos griff Frau Jürgensen in eine der Schubladen in ihrem Schreibtisch und gab Werner ein Blatt DIN A4 Papier mit nur einer Zeile. Es war eine ellenlange Zahl, die als Schlüssel für das hauseigene Internet einzuspeichern war. „Bitte löschen Sie das wieder, wenn Sie fertig sind.“
„Das mache ich selbstverständlich. Vielen Dank, Frau Jürgensen.“ Werner ging in den Flur, wo er den Drucker gesehen hatte. Dann schaltete er das Wlan seines Laptops ein und gab die lange Kennung ein. Als er im lokalen Netz des Büros war, suchte er in diesem Netz nach einem Drucker. Er fand ihn schließlich als Multifunktionsgerät und installierte den geforderten Treiber. Den Plan des Baumarktes druckte er drei mal und einmal eine Seite mit Stadtplan. Diese Seite brachte er offen mit ins Büro, wo er das DIN A4 Blatt mit der Wlan Kennung wieder zurückbrachte und die Dame einen kurzen Blick auf den Stadtplan werfen ließ. Dann verabschiedete er sich mit vielen Dank.
Auch beim Pförtner zeigte er wohlweislich nur den Zettel mit dem Stadtplan. Die Satellitenfotos behielt er in seiner Brusttasche. „Auf Wiedersehen Fritz“, sagte Werner dieses Mal auf Hochdeutsch und schlenderte wieder zurück in sein Zimmer. Dort musterte er die Aufnahme des Parkplatzes sehr genau und mit einem lauten Aha, konnte sich im Stillen schon einen Plan zurecht legen. Das würde er mit den Kollegen diskutieren.
In seiner Wohnung kämpfte Jan mit einem Luxusproblem. Er hatte noch eine Blechdose mit der Aufschrift: Herzhafter Grünkohleintopf im Schrank. Sollte er den verzehren oder einfach mal in die Budapester Alle spazieren und an der Pommesbude eine Currywurst genießen. Dann vielleicht noch ein Weizenbier? Aber nein, das ging heute nicht. Er konnte nicht mit einer Bierfahne in den Fahrradladen und ein E-Bike kaufen. Also her mit dem Grünkohl und der Abwasch war ja auch nicht schlimmer, als den Pappteller von der Currywurst in den Papierkorb zu werfen. Nach seinem Mahl schaute er im Fernseher noch die Nachrichten und sammelte dann schon alles zusammen, was er heute mitnehmen musste: Einen Ausweis, seinen Führerschein, das Geld für das Rad und vielleicht einen Anorak mit Kapuze. Man wusste ja nicht, wie lange der Baumarkt offen blieb. Abends konnte es schon ganz schön frisch werden. Auch bei einer flotten Fahrt auf dem E-Bike kann der Fahrtwind kühlen.
Alles lag parat als Dieter herein gehumpelt kam. Sie machten sich auf, den Fahrrad- Händler zu besuchen. Dabei waren beide seltsam still, als gäbe es nichts mehr zu besprechen. Dieter grübelte ein wenig darüber ob er wohl mit dem Ding zurecht käme. Ob seine Reaktionen schnell genug wären für den Verkehr in einer Stadt. Er freute sich schon darauf, auch entlegene Orte besuchen zu können. Für einige Fleckchen Erde war die öffentlichen Verkehrsmittel zu teuer für ihn und zu Fuß einfach zu mühselig. Auch Jan machte sich seine Gedanken über das neue Abenteuer. Was würde bei dem Baumarkt Job herauskommen. Was würde passieren, wenn sie von der Polizei geschnappt würden. Wenn er nach drei oder vier Jahren aus dem Gefängnis entlassen würde, wo sollte er noch eine Wohnung bekommen. Angst und Unsicherheit wollten sich einfach nicht unterdrücken lassen.
Der Händler in der Heinrichstraße kannte Dieter ja schon. Als er erfuhr, dass Jan seine Personalien für den Eintrag im Kaufvertrag und für die Versicherung abgeben wollte musterte er Jan von oben bis unten wie ein Metzger, der einen Bullen töten will. So fühlte es sich für Jan Daballer jedenfalls an. Er sah einen anscheinend vollkommen mobilen Menschen, mit einfacher Kleidung, sauberen Schuhen. Die Schuhe musterte er genauer und es schien ein Paar vom Kaufhaus zu sein. Ein billiges Sonderangebot taxierte er. So schätzte er die Bonität des Herrn Daballer ähnlich prekär ein wie die vom Dieter. Diesen fragte er aber dann doch: „Warum wollen Sie das E-bike nicht auf Ihren Namen zulassen?“
Hier konnte aber Dieter sofort Auskunft geben: „In meiner Stadtwohnung habe ich keinen sicheren Abstellraum. Daher habe ich einen Freund gebeten, seinen Namen zu verwenden.“
„Gut, das ist im Grunde auch egal, ich muss dann nur noch den Kaufvertrag umschreiben. Wenn die Herren einen Augenblick Platz nehmen wollen..“
Während er sich im Stillen ärgerte dass er das Rad so billig verkauft hatte, bat er die beiden in sein Büro. Aus einem Papierstapel zog er zwei Blätter hervor, die er dann ausfüllte mit dem Namen und der Anschrift von Jan.
„So, Herr Daballer, wenn Sie jetzt hier unterschreiben möchten. Es ist einmal der Kaufvertrag und einmal die Pflichtversicherung. Hat einer der Herren überhaupt einen Führerschein?“
„Wir haben beide einen älteren mit Klasse 3. Wir haben bei Fahrpraxis auf diversen PKW!“ Während Jan das sagte, fummelten beide in ihren Jackentaschen herum, um die Dokumente heraus zu holen.
„Ich brauche nur den Führerschein des Käufers, der hat ja sozusagen den Hut auf und muss auch den Vertrag unterschreiben.“ Der Händler setzte einen wichtigen Ton in seine Stimme.
Jan wollte aber noch etwas wissen: „Eine Frage zu dem Akku hätte ich noch: Kann man den abnehmen und in der Wohnung laden? Und dann würde mich noch interessieren wie schwer das Fahrzeug ist.“
Der Verkäufer begann das Gerät mit Worten zu vergolden: „Sie bekommen hier ein Super Gerät der Spitzenklasse. Es wiegt nur 27 kg und hat einen Akku und ein Ladegerät von Bosch. Damit sind sie immer auf der sicheren Seite. 50 km Strecke schaffen sie immer, auch bei Gegenwind. Sollte der Akku im Laufe der Zeit einmal nachlassen, dann garantiert der Hersteller 10 Jahre Ersatzlieferungen. Auch die Größe passt für den Herrn Daballer wunderbar. Leute bis 185 cm Größe können gefahrlos mit dem Rad fahren.“
„Ich bin nur einsachtundsiebzig“, murmelte Jan.
„Ja, sehen Sie, das passt doch genau. Das Rad kann bis zu einhundertsiebzig Kilo tragen. Wenn ich Ihre schlanke Statur sehe, dann könnte sogar die Frau Gemahlin noch auf einem zweiten Sattel mitfahren. Den müssten Sie allerdings auch bei uns kaufen und anbauen lassen.“
Jan hörte die letzten Ausführungen noch noch im Unterbewusstsein. Er dachte an die siebenundzwanzig Kilo, die er die Treppen hoch das Rad tragen müsste. Es schien aber durchaus nicht unmöglich, wo man doch den schweren Akku auch noch abnehmen konnte. Dann hörte er Dieter sagen:
„Nun unterschreibe schon, damit wir weiter kommen!“ Jan nahm den dargebotenen Kugelschreiber und setzte unter 2 Verträge seinen Namenszug, ohne das Kleingedruckte gelesen zu haben. In dem einen Vertrag hatte er gelesen: Verkauft wie gesehen und bei Versicherungen hat man immer schlechte Karten. Da nützt es auch nichts, wenn man das Kleingedruckte liest.